Meine Lieblings-Gedichte

 

 

Wenn...

 

ich mein Leben noch einmal leben dürfte, würde ich viel mehr Fehler machen.
Ich würde entspannen.
Ich würde viel verrückter sein als in diesem Leben.
Ich wüßte nur wenige Dinge, die ich wirklich sehr ernst nehmen würde.
Ich würde mehr Risiko eingehen.
Ich würde mehr reisen.
Ich würde mehr Berge besteigen, mehr Flüsse durchschwimmen
und mehr Sonnenuntergänge betrachten.
Ich würde mehr Eis und weniger Salat essen.
Ich hätte mehr echte Probleme und weniger eingebildete.
Sehen Sie, ich bin einer dieser Menschen,
die immer vorausschauend und vernünftig leben,
Stunde um Stunde, Tag für Tag.
0 ja, es gab schöne Momente,
und wenn ich noch einmal leben dürfte, hätte ich mehr davon.
Ich würde eigentlich nur noch welche haben.
Nur schöne, einen nach dem anderen.
Wenn ich mein Leben noch einmal leben dürfte,
würde ich bei den ersten Frühlingsstrahlen barfuss gehen
und vor dem Spätherbst nicht damit aufhören.
Ich würde vieles einfach schwänzen.

Ich würde mehr Achterbahn fahren.
Ich würde öfter in der Sonne liegen.     
 
Frei nach Jorge Luis Borges (Quelle nicht wirklich klar)

 

 

Stufen

 

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

 

Hermann Hesse

 

 

Ich bin die Zeit

 

Mein Reich ist klein und unbeschreibbar weit.
Ich bin die Zeit.
Ich bin die Zeit, die schleicht und eilt,
die Wunden schlägt und Wunden heilt.
Hab weder Herz noch Augenlicht.
Ich trenn die Gut' und Bösen nicht.
Ich hasse keinen, keiner tut mir leid.
Ich bin die Zeit.
Da ist nur eins, das sei euch anvertraut
Ihr seid zu laut.
Ich höre die Sekunden nicht,
Ich hör den Schritt der Stunden nicht.
Ich hör euch beten, fluchen schrein,
Ich höre Schüsse zwischendrein;
Ich hör nur Euch, nur Euch allein.
Gebt acht, ihr Menschen, was ich sagen will:
Ihr seid ein Stäubchen, seid endlich Still
Am Gewand der Zeit.
Laßt euren Streit
Klein wie ein Punkt ist der Planet,
Der sich samt euch im Weltall dreht.
Die oben pflegen nicht zu schreien
Und wollt ihr schon nicht weise sein,
Ihr könnt zumindest leise sein.
Schweigt vor dem Ticken der Unendlichkeit.
Hört auf die Zeit!

Erich Kästner

 

 

 

Jugend

 

So gib mir auch die Zeiten wieder,
da ich noch selbst im Werden war,
da sich ein Quell gedrängter Lieder
ununterbrochen neu gebar,
da Nebel mir die Welt verhüllten,
die Knospe Wunder noch versprach,
da ich die tausend Blumen brach,
die aller Täler reichlich füllten!
Ich hatte nichts und doch genug:
Den Drang nach Wahrheit und die Lust am Trug!
Gib ungebändigt jene Triebe,
das tiefe schmerzenvolle Glück,
des Hasses Kraft, die Macht der Liebe,
gib meine Jugend mir zurück!"

Johann Wolfgang von Goethe ( Faust, Vorspiel)

 

 

 

Das Trinklied vom Jammer der Erde (nach Li-Tai-Po)

 

Schon winkt der Wein in goldenen Pokalen,
Doch trinkt noch nicht! Erst sing ich euch ein Lied!
Das Lied vom Kummer soll euch in die Seele
Auflachend klingen! Wenn der Kummer naht,
So stirbt die Freude, der Gesang erstirbt,
Wüst liegen die Gemächer meiner Seele.
         Dunkel ist das Leben, ist der Tod.
Dein Keller birgt des goldnen Weins die Fülle,
Herr dieses Hauses, ich besitze andres:
Hier diese lange Laute nenn ich mein!
Die Laute schlagen und die Gläser leeren,
Das sind zwei Dinge, die zusammenpassen!
Ein voller Becher Weins zur rechten Zeit
Ist mehr wert als die Reiche dieser Erde.
         Dunkel ist das Leben, ist der Tod.
Das Firmament blaut ewig, und die Erde
Wird lange feststehn auf den alten Füßen,
Du aber, Mensch, wie lange lebst denn du?
Nicht hundert Jahre darfst du dich ergötzen
An all dem morschen Tande dieser Erde,
Nur Ein Besitztum ist dir ganz gewiß:
Das ist das Grab, das grinsende, am Ende.
         Dunkel ist das Leben, ist der Tod.
Seht dort hinab! Im Mondschein auf den Gräbern
Hockt eine wild-gespenstische Gestalt.
Ein Affe ist es! Hört ihr, wie sein Heulen
Hinausgellt in den süßen Duft des Abends?
Jetzt nehmt den Wein!  Jetzt ist es Zeit, Genossen!
Leert eure goldnen Becher bis zum Grund!
       Dunkel ist das Leben, ist der Tod. 
 
Hans Bethge

(1876-1946)

aus: "Die chinesische Flöte" Nachdichtungen chinesischer Lyrik

 

 

 

Das Eisenbahngleichnis

 

Wir sitzen alle im gleichen Zug
und reisen quer durch die Zeit.
Wir sehen hinaus. Wir sahen genug.
Wir fahren alle im gleichen Zug.
Und keiner weiß, wie weit.

Ein Nachbar schläft, ein anderer klagt,
ein dritter redet viel.
Stationen werden angesagt.
Der Zug, der durch die Jahre jagt,
kommt niemals an sein Ziel.

Wir packen aus. Wir packen ein.
Wir finden keinen Sinn.
Wo werden wir wohl morgen sein?
Der Schaffner schaut zur Tür herein
und lächelt vor sich hin.

Auch er weiß nicht, wohin er will.
Er schweigt und geht hinaus.
Da heult die Zugsirene schrill!
Der Zug fährt langsam und hält still. 
Die Toten steigen aus.

Ein Kind steigt aus. Die Mutter schreit.
Die Toten stehen stumm
am Bahnsteig der Vergangenheit.
Der Zug fährt weiter, er jagt durch die Zeit,
und niemand weiß, warum.

Die I. Klasse ist fast leer.
Ein feister Herr sitzt stolz
im roten Plüsch und atmet schwer.
Er ist allein und spürt das sehr.
Die Mehrheit sitzt auf Holz.

Wir reisen alle im gleichen Zug
zu Gegenwart in spe.
Wir sehen hinaus. Wir sahen genug.
Wir sitzen alle im gleichen Zug
und viele im falschen Coupé.

Erich Kästner

 

 

Steppenwolf

 

Ich Steppenwolf trabe und trabe, 
Die Welt liegt voll Schnee, 
Vom Birkenbaum flügelt der Rabe, 
Aber nirgends ein Hase, nirgends ein Reh! 
In die Rehe bin ich so verliebt, 
Wenn ich doch eins fände! 
Ich nähm's in die Zähne, in die Hände, 
Das ist das Schönste, was es gibt. 
Ich wäre der Holden so von Herzen gut, 
Fräße mich tief in ihre zärtlichen Keulen, 
Tränke mich satt an ihrem hellroten Blut, 
Um nachher die ganze Nacht einsam zu heulen. 
Sogar mit einem Hasen war ich zufrieden, 
Süß schmeckt sein warmes Fleisch in der Nacht - 
Ach, ist denn alles von mir geschieden, 
Was das Leben ein bißchen fröhlicher macht? 
An meinem Schwanz ist das Haar schon grau, 
Auch kann ich nicht mehr ganz deutlich sehen, 
Schon vor Jahren starb meine liebe Frau. 
Und nun trab ich und träume von Rehen, 
Trabe und träume von Hasen, 
Höre den Wind in der Winternacht blasen, 
Tränke mit Schnee meine brennende Kehle,

Trage dem Teufel zu meine arme Seele.

 

Herrman Hesse 

 

Ein Sang der Freuden

 O, das frohlockendste Jubellied anzustimmen!

Voll Musik, voll Mannheit, Weibheit, Kindheit,

Voll gewöhnlicher Beschäftigungen – voll Korn und Bäumen.

 

O, die Stimmen der Tiere!

Die Geschwindigkeit und das Gleichgewicht der schwimmenden Fische,

Das Fallen der Regentropfen im Liede.

O Sonnenschein und Wellenbewegung in einem Gesang!

 

O Freude meines Geistes – uneingekerkert strahlt er Blitze!

Es genügt nicht, diesen Erdball und eine Spanne Zeit zu haben,

Ich will Tausende von Erdkugeln und alle Zeiten haben!

 

O, die Freuden des Ingenieurs, mit einer Lokomotive zu fahren!

Das Zischen des Dampfes zu hören, das fröhliche Schrillen der Dampfpfeife – die lachende Lokomotive,

Mit unaufhaltsamer Schnelligkeit in der Ferne zu verschwinden ...

 

O, das glückselige Streifen über Felder und Hügel!

Die Blätter und Blüten des gewöhnlichsten Unkrauts, die feuchte Frische des stillen Waldes,

Der köstliche Erdgeruch bei Tagesanbruch und den ganzen Vormittag hindurch.

 

O, die Freuden des Reiters und der Reiterin!

Der Sattel, der Galopp, der Druck auf den Sitz, das kühle Säuseln der Luft um Ohren und Haare ...

 

O, die Freuden des Feuerwehrmannes!

Ich höre den Alarm in der Stille der Nacht,

Höre Glocken, Rufe – ich laufe, ich hole die Menschenmenge ein,

Der Anblick der Flammen macht mich rasend vor Vergnügen.

 

O, die Freude des muskelkräftigen Fechters in der Arena; hochaufgerichtet steht er in tadelloser Verfassung, kraftbewußt, dürstend nach dem Gegner!

 

O, die Freude des mächtigen ursprünglichen Mitfühlens, das nur die menschliche Seele zu erzeugen und auszugießen vermag in steten, unaufhörlichen Fluten ...

 

O, die Freuden der Mutter!

Das Behüten, das Ertragen, die unendliche Liebe, die Seelenqual, das geduldig hingegebene Leben.

 

O, die Freuden des Wachsens und der Erneuerung,

Die Freude des Tröstens und Beruhigens, die Freude des Einverständnisses, des Einklangs,

 

O, an den Ort zurückzukehren, wo ich geboren!

Die Vögel noch einmal singen zu hören,

Noch einmal durch Haus und Scheunen und über die Felder zu streifen,

Durch den Obstgarten und die alten Redderwege ...
 

O, an Meeresbuchten, Lagunen, Schluchten oder am Meeresstrand aufgewachsen zu sein,

Dort zu bleiben und das ganze Leben beschäftigt zu sein:

Der feuchte Salzgeruch, das Ufer, der Tang, der bei Ebbe bloßgelegt wird,

Die Arbeit der Fischer, der Aalfischer und Muschelfischer –

Ich komme mit Muschelharke und Spaten, ich komme mit meinem Aalstecher.

Ist schon Ebbezeit? Ich gehe mit den andern Muschelgräbern auf die Sandbänke,

Ich lache und arbeite mit ihnen und bin lustig dabei wie ein übermütiger Bursche.

Im Winter nehme ich meinen Aalkorb und Speer und gehe hinaus aufs Eis,

Ich habe eine kleine Axt, um Löcher ins Eis zu hauen;

Dann sieht man mich warm angezogen, fröhlich hinauswandern, oder nachmittags zurückkommen,

Eine Bande von derben Jungen begleitet mich,

Meine Brut erwachsener oder halbwüchsiger Jungen, die bei keinem so gern sein mögen wie bei mir,

Am Tage mit mir arbeiten und nachts bei mir schlafen.

Ein andermal bei warmem Wetter draußen im Boot, um die Hummerkörbe aufzuholen, wo sie mit schweren Steinen versenkt sind (ich kenne die Bojen),

O, die Frische des Morgens des fünften Monats auf dem Wasser, wenn ich eben vor Sonnenaufgang nach den Bojen hinrudere;

Ich ziehe die Körbe schräge herauf, die dunkelgrünen Hummer wehren sich verzweifelt mit ihren Scheren während ich sie herausnehme,[1

 

Ich schiebe Holzkeile in die Gelenke ihrer Kneifzangen,

Ich rudere nach allen Stellen hin, eine nach der andern, und dann zum Strand zurück,

Dort in einem großen Kessel mit kochendem Wasser sollen die Hummer kochen, bis sie scharlachrot werden.

 

Ein andermal beim Makrelenfang;

Gefräßig und wild, schnappen sie nach dem Haken dicht unter der Oberfläche des Wassers, scheinbar meilenweit kann man sie verfolgen;

Ein andermal beim Klippenfischfang in Chesapeake-Bay, und ich einer von der gebräunten Mannschaft;

Ein andermal beim Blaufischfang in Schleppnetzen vor Paumanok,

Ich stehe mit straffgespanntem Körper,

Mein linker Fuß auf dem Außenbord, mein linker Arm wirft die aufgerollten dünnen Leinen weit hinaus,

Ringsum im Gesichtskreis das flinke Wenden und Halsen von fünfzig Schaluppen, meinen Begleitern.

 

O, das Bootfahren auf den Flüssen! den Lawrencestrom hinunter, die herrliche Scenerie, die Dampfer, die Segelschiffe, die tausend Inseln,

Die Holzflöße und die Floßlenker mit ihren langen Schwungrudern,

Die kleinen Hütten auf den Flößen, mit den Rauchsäulen, wenn das Abendessen gekocht wird.

 

O! Auch etwas Verderbliches und Grausiges,

Etwas weitab von dem kleinlichen und frommen Leben!

Etwas Unbewiesenes, Etwas in der Verzücktheit!

Etwas vom Anker Losgerissenes und frei Treibendes!

 

O, in Minen zu arbeiten, oder das Eisen zu schmieden!

Eisen zu gießen, die Gießerei selbst, das grobe, hohe Dach, der weite schattige Raum,

Der Hochofen, die heiße Flüssigkeit, wie sie ausgegossen dahinläuft ...

 

O, die Freuden des Soldaten wieder zu durchleben!

Die Gegenwart eines tapferen Offiziers zu fühlen und seine Sympathie,

Seine kaltblütige Ruhe – erwärmt durch die Strahlen gütigen Lächelns,

In die Schlacht zu ziehen, die Hörner zu hören und die Trommeln,

Das Krachen der Artillerie, das Glitzern der Bajonette und Gewehrkolben in der Sonne,

Männer fallen und sterben zu sehen ohne zu klagen,

Den wilden Blutgeschmack zu schmecken – so teuflisch sein zu können!

So zu triumphieren über den Tod und die Wunden der Feinde.

 

O, die Freuden des Walfischfängers!

Ich segle wieder meine frühere Kreuzfahrt,

Fühle die Bewegung des Schiffes unter mir, fühle wie die atlantische Brise mich fächelt,

Höre wieder den Ruf, vom Mastkorb gemeldet: »Da – bläst schon einer!«

Wieder klettere ich mit den andern am Takelwerk hinauf und wieder hinunter, toll vor Aufregung,

Ich springe in das hinuntergelassene Boot, wir rudern auf unsere Beute zu, wo sie still liegt,

Wir kommen heran, vorsichtig und schweigend,

Ich sehe die bergartige Masse schläfrig sich sonnend,

Sehe den Harpunier aufrecht stehen – wie die Waffe seinem kräftigen Arm entsaust! –

Und wieder zieht mich der verwundete Wal weit hinaus in den Ozean, untertauchend, windwärts entfliehend, schleppt er uns hinter sich her.

Ich sehe ihn an die Oberfläche kommen, um Luft zu holen,

Wir rudern näher heran,

Ich sehe wie eine Lanze in seine Seite getrieben und tief in der Wunde umgedreht wird,

Wieder rudern wir rückwärts von ihm ab, ich sehe wie er nochmals niedersinkt, das Leben schwindet ihm rasch,

Beim Auftauchen speit er Blutstrahlen, ich sehe wie er im Kreise herumschwimmt – immer enger und enger, das Wasser scharf durchschneidend,

Und zuletzt, wie er stirbt: er macht einen krampfhaften Sprung im Zentrum des Kreises und fällt dann flach auf die Seite, ganz bewegungslos in dem blutigen Schaum.

 

O mein Greisenalter! die edelste aller Freuden!

Meine Kinder und Kindeskinder, mein weißes Haar und mein Bart,

Und die volle Reife, die Ruhe und Würde – gewonnen aus der langen Strecke meines Lebens ...

 

O gereifte Freuden der Weibheit – O Glück doch zuletzt!

Ich bin über achtzig Jahre alt, die ehrwürdigste der Mütter,

Wie klar ist mein Geist, wie fühlen sich alle zu mir hingezogen!

Was für Anziehungskräfte sind denn das, mehr als alle früheren Reize?

Solch ein Blühen, mehr als das Blühen der Jugend?

Was ist das für eine Schönheit, die sich auf mich herabsenkt und aus mir emporsteigt?

 

O, die Freuden des Redners!

Mit voller Brust den Donner der Stimme aus Hals und Rippen zu entsenden,

Die Menge mit mir rasen, weinen, hassen und begehren zu machen,

Amerika zu führen! – Amerika mit gewaltiger Zunge zu bezwingen!

 

O, die Freude meiner Seele, die mit sich selbst im Gleichgewicht, alles Gleichartige empfängt durch die Materie und sie liebt, Charaktere beobachtet und in sich aufnimmt,

Meine Seele wird von andern zurückgestrahlt aus Gesicht, Gehör, Gefühl, Verstand, Lautbildung, Vergleichung und Erinnerung,

Das wirkliche Leben meiner Sinne und meines Fleisches geht über mein Fleisch und meine Sinne hinaus,

Mein Körper hat die Materie erledigt, mein Sehen mit den leiblichen Augen ist abgetan,

Heute ist es mir über jeden Zweifel erwiesen, daß es nicht meine materiellen Augen sind, welche endgültig sehen,

Noch mein materieller Leib, welcher endgültig liebt, geht, lacht, ruft, umarmt und sich fortpflanzt!
 

O, des Farmers Freuden!

Die Freuden von Ohio, Illinois, Wisconsin, Kanada, Jowa, Kansas, Missouri, Oregon!

Beim Tagesgrauen aufzustehen und gleich zur Arbeit zu eilen,

Im Herbst das Land zu pflügen für die Wintersaat,

Im Frühjahr zu pflügen für die Maissaat,

Obstgärten zu pflegen, Bäume zu pfropfen und im Herbst die Äpfel zu pflücken.

 

O, im Schwimmbassin zu baden oder an einer günstigen Stelle am Ufer,

Im Wasser zu platschen, knöcheltief darin zu waten, oder nackt am Ufer entlang zu rennen!

 

O, sich des unbegrenzten Raumes bewußt zu werden!

Des Überflusses von allem, daß es keine Grenzen gibt,

Aufzutauchen und eins zu sein mit dem Himmel, der Sonne, dem Mond und den fliehenden Wolken ...

 

O, die Freude des männlichen Selbstbewußtseins!

Niemandem unterwürfig zu sein, keinem der bekannten oder unbekannten Tyrannen zu dienen,

Einherzugehen in aufrechter Haltung mit leichtem, federndem Schritt,

Mit ruhigem Blick oder mit funkelndem Auge dreinzuschauen,

Mit voller, tiefer Stimme aus breiter Brust zu sprechen,

Und die eigene Persönlichkeit allen andern Persönlichkeiten der Erde entgegenzustellen.

 

Kennst du die köstlichen Freuden der Jugend?

Freuden lieber Gefährten, das Scherzwort und die lachenden Gesichter?

Freude des frohen, licht-strahlenden Tages? Freude der hochatmenden Kampfspiele?

Freuden süßer Musik, des erleuchteten Ballsaals und der Tänzer?

Freuden der reichlichen Mahlzeit, des kräftigen Gelages und Trinkens?

 

Dennoch, o meiner Seele Höchstes!

Kennst du sie, die Freude des ruhigen Denkens?

Die Freude des freien und einsamen Herzens, des zärtlichen, trauernden Herzens?

Die Freuden des einsamen Spazierganges, wann das Gemüt niedergedrückt und doch stolz ist, das Leiden und mit sich Ringen?

Die geistigen Wehen, die Ekstasen, die Freuden des feierlichen Sich-Vertiefens, tags oder nachts?

Der Gedanke an den Tod, an die großen Sphären: Zeit und Raum?

Die ahnungsvollen Freuden besserer, höherer Liebesideale, die göttliche Ehegattin, der süße, der ewige, der vollkommene Kamerad?

Das sind deine eigenen, unsterblichen Freuden, deiner würdig, o Seele!

 

Während man lebt ein Herrscher, nicht ein Sklave des Lebens zu sein,

Dem Leben wie ein Eroberer entgegenzutreten,

Keine trüben Dünste, keine Langeweile, keine Klagen mehr noch höhnische Kritiken,

Nur die stolzen Gesetze der Luft, des Wassers und der Erde, die mir beweisen, daß mein Innerstes unerschütterlich ist,

Und daß nichts außer mir jemals Gewalt über mich gewinnen soll.

 

Nicht die Freuden des Lebens allein besinge ich, sondern auch wieder die Freuden des Todes:

Die schöne Berührung des Todes, für einen Augenblick besänftigend und betäubend, der Natur gehorchend,

Ich lege meinen ausscheidenden Körper ab, um verbrannt, zu Staub gemahlen oder begraben zu werden,

Mein wirklicher Leib bleibt mir sicherlich für andere Sphären,

Mein leerer Körper ist mir nichts mehr; er kehrt zurück zu der Reinigung, zur weiteren Verwertung und zum ewigen Nutzen der Erde.

 

O! Anzuziehen mit mehr als gewöhnlicher Anziehungskraft!

Wie es möglich ist, weiß ich nicht – doch sieh, etwas, das keinem andern gehorcht,

Immer angreifend, niemals widerstehend – wie magnetisch zieht es an.

 

Gegen eine Übermacht zu kämpfen, Feinden unerschrocken zu begegnen,

Ganz allein mit ihnen zu sein, zu erproben was man ertragen kann,

Streit, Schmerz, Gefängnis und öffentlicher Ächtung fest ins Antlitz zu blicken,

Das Schafott zu besteigen oder mit Gleichmut den Mündungen der Kanonen entgegenzusehen,

Wirklich ein Gott zu sein!

 

Auf einem Schiff in See zu stechen –

Dieses gleichmäßige, unerträgliche Land hinter sich zu lassen,

Die ermüdende Gleichheit der Straßen, der Bürgersteige und Häuser,

Dich, du unbewegliches festes Land zu verlassen und ein Schiff zu besteigen

Und segeln, segeln, segeln! ...

 

O, das Leben hinfort wie ein Gedicht voll neuer Freuden zu haben!

Tanzen, händeklatschen, frohlocken, hüpfen, springen, weiter rollen, weiter schwimmen,

Ein Seefahrer der Welt zu sein, nach allen Häfen bestimmt,

Selber ein Schiff (sieh' doch, wie ich meine Segel der Sonne und Luft entgegenbreite!):

Ein schnelles, schwellendes Schiff, voll reicher Gedanken und Freuden.

 

Whitman, Walt: Grashalme. Leipzig 1904, S. 143-153.

 

 

Teufelspakt

"Werd' ich zum Augenblicke sagen: verweile doch! Du bist so schön! 
Dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehn!
Dann mag die Totenglocke schallen, dann bist du meines Dienstes frei,
 die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen, es sei die Zeit für mich vorbei!"


 Johann Wolfgang von Goethe "Faust" 
(1699-1706)

 

Gewißheit

Soviel ich auch erleide,

mein Leben ist doch schön:

Ich kann in blauen Weiten

durch Wunder gehn.

 

Verspüren Urweltsatem

in Blut und Geist,

wie er in allen Wesen

unendlich kreist.

 

In Mond- und Sternlichtschimmer

durch dunkle Sphären ziehn,

den ew'gen Rhythmus fühlend

ihm nicht entfliehn.

 

Die höchste Schönheit schauen

in Wolke, Blum' und Tier,

Geheimnisvollem lauschen

in dir und mir.

 

Das macht, wenn ich auch leide,

mein Leben innig schön:

Ich kann in blauen Weiten

noch Wunder sehn.

Anne Mass (Farmerin in Namibia)

 

 

Abschied

Das Gestern, das mich flieht, kann ich nicht halten,
Das Heute drückt mich wie ein Frauenschuh.
Die kleinen Wandervögel schon entfalten
Die Flügel herbstlich ihrer Heimat zu.
Ich steige auf den Turm, die Arme weit zu dehnen,
Und fülle meinen Becher nur mit Tränen.

Ob ich, ihr großen Dichter, euer werde?
Ich bin gekrönt, wenn mich ein Vers von euch umflicht.
Und meine Füße stampfen wohl die Erde,
Doch ach zum Himmel tragen sie mich nicht.

Wer kann den Springbrunn mit dem Degen spalten?
Wie Oel schimmt oben auf dem Wein die Not.
Das Gestern, das mich flieht, kann ich nicht halten.
Ich werf mich in ein steuerloses Boot.
Das Haar dem Winde flatternd preisgegeben,
Wird mich die Woge auf und nieder heben.



Li Tai-pe (699-762)

Nachdichtung aus dem Chinesischen von Klabund.

* über Li Tai-pe:
Li Tai-pe lebte in China von 699 bis 762 nach Christi Geburt. Als ewig trunkener, ewig
heiliger Wanderer wandert er durch die chinesische Welt. Kunstsinnige Herrscher beriefen
den erlauchten Vagabunden an ihren Hof, und oft genug erniedrigte und erhöhte sich der Kaiser
zum Sekretär des Dichters: wenn Li Tai-pe nach einem Zechgelage ihm seine Verse im Morgengrauen
in den Pinsel diktierte. Der Kaiser, der den Dichter und Menschen brüderlich liebte, machte ihn
zum kaiserlichen Beamten, setzte ihm eine Rente aus und gab ihm als Zeichen seiner höchsten Gnade
ein kaiserliches Prunkgewand zum Geschenk - für einen Chinesen damaliger Zeit die höchste Ehrung.
Li Tai-pe schleifte das kaiserliche Gewand durch alle Gossen der Provinz und ließ sich an Abenden
voll Trunkenheit als Kaiser huldigen. Oder er hielt, in des Kaisers Kleidern, rebellische Ansprachen
an die Trinkkumpane und das herbeigelaufene Volk. Er starb im Rausch, indem er bei einer nächtlichen Bootfahrt aus dem Kahne fiel. Die Legende läßt ihn von einem Delphin erretten, der ihn, während in
den Lüften engelhafte Geister ihn betreuen, aufs Meer hinaus und in die Weite der Unsterblichkeit
entführt.

Sein Volk vergötterte ihn und errichtete ihm einen Tempel; der kunstreichste der chinesischen Lyriker
wurde auch der volkstümlichste. Noch heute genießt er in China, dem klassischen Lande des Literatentums,
ein Ansehen, wie es nicht einmal Goethe bei den Deutschen genießt. Während eifrige Kommentatoren fortgesetzt am Werke sind, seinen Versen spitzfindige, tiefsinnige und geistreiche Erklärungen unterzulegen, singen
junge und alte Burschen seine unsterblichen Lieder auf den Straßen

 

 

 

Aktuelles

 "Mein Lebensweg - eine Standortbestimmung und Überprüfung eigener Lebensziele" 

 

Bin seit 20.11.2022 leider nicht mehr am Leben. Verfolgt Eure Ziele trotzdem weiter.

 

Neu: Das Forum         

http://innenkreis.xobor.de

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